Aerotoxisches Syndrom

Aus PASSAGIERRECHTE
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Aerotoxisches Syndrom ist ein Begriff, mit dem kurz- und langfristige Gesundheitsschäden beschrieben werden, die durch die verunreinigte Kabinenluft in Passagierflugzeugen mit Öldämpfen und anderen Chemikalien ausgelöst werden können. Das Vorkommen von Verunreinigung der Atemluft wird dann als sogenanntes „Fume Event“, oder auch „Smell-Event“, bezeichnet, bei welchem nicht zwangsläufig sichtbarer Dunst oder Rauch auftreten muss. Der Begriff wurde zum ersten Mal 1999 erwähnt. Das aerotoxische Syndrom ist in der Medizin nicht anerkannt und daher ein bisher relativ unerforschtes Krankheitsbild.

Symptome

Die Symptome, die unter dem aerotoxischen Syndrom zusammengefasst werden, können direkt nach dem sogenannten „Fume-Event“ auftreten, sich aber auch über Tage und Wochen entwickeln oder ganz ausbleiben. Auch wenn die Symptome klinisch nachweisbar sind, ist es als offizielles Krankheitsbild nicht anerkannt. Zu den Symptomen gehören:

  • Schleimhautreizung
  • Atemnot
  • Herzrhythmusstörungen
  • Kopfschmerzen
  • Bauchkrämpfe
  • Muskelschwäche
  • grippeähnliche Symptome
  • Störungen des Gleichgewichts und des Ganges
  • Kribbeln und Taubheitsgefühl

Mögliche Ursachen

Moderne Verkehrsflugzeuge haben ein System, das für den ordentlichen Zustand der Kabinenluft sorgt – Environmental Control System (ECS). Ein Teil der Luft zirkuliert ständig, ein anderer Teil wird der Umgebung mittels einer Zapfluft-Anlage entnommen. In fast allen Verkehrsflugzeugen wird die Frischluft mittels dieser Anlagen aus dem Verdichter des Triebwerkes bezogen. Bisher wurde angenommen, dass nur bei einer fehlerhaften Abdichtung der Verdichterlager Ölpartikel pyrolysiert (erhitzt) und als Dämpfe über das Triebwerk in die Zapfluft-Anlagen, und somit in die Kabine der Flugzeuge, gelangen. Inzwischen konnte man herausfinden, dass es nicht nur an der fehlerhaften Abdichtung liegt, sondern es grundlegend kein komplett öldichtes Triebwerk gibt. Wenn also diese Anlage nicht ordnungsgemäß funktioniert, können schädliche Substanzen aus den Pflegemitteln (zum Beispiel Enteisungsflüssigkeit) des Flugzeuges in die Kabinenluft gelangen.
Das britische Comitee on toxicology (COT) stellte in einem Informationsblatt mögliche Faktoren zusammen, die die Qualität der Kabinenluft negativ beeinflussen können:

  • Hydraulikleck unter dem Boden
  • Aufnahme der Enteisungsflüssigkeit durch Hilfstriebwerke (APU)
  • Wartung und Reinigung der Galley im Flugzeug
  • Unsachgemäße oder übermäßige Verwendung des Trockeneises durch den Lieferanten beim Lagern von Lebensmitteln
  • Auslaufen der Desinfektionsflüssigkeit im Sanitärbereich oder deren nicht fachgerechte Mischung

Triebwerksöle

Aus dem speziellen Öl, mit dem die Triebwerke der Flugzeuge geschmiert werden, entstehen bei der Erhitzung (Pyrolyse) hochgiftige bis nervenschädigende Dämpfe. Diese enthalten Stoffe wie Phenyl-Naphthylamine und Organophosphate, die von einigen Toxikologen als hochgefährlich eingestuft werden. Der bisher höchste Wert von Organophosphaten (154,9 Mikrogramm Trikresylphosphat auf 2x2 cm) wurde in einer Maschine (Typ Boeing 757) der Condor gemessen. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass nicht die einzelnen Bestandteile, sondern erst die chemische Mischung der verschiedenen erhitzten Stoffe zu Schädigungen am menschlichen Körper führen können.

Weitere giftige Stoffe

Neben den Ölen können auch Stoffe aus Kerosin oder Enteisungsmitteln bei der Erhitzung freigesetzt werden, die über undichte Stellen im Triebwerk in die Zapfluft-Anlagen gelangen können. Über die Atemluft aufgenommen, können die schädlichen Dämpfe Nerven und Herz-Kreislauf-System angreifen und die Atemwege reizen.


Besonders gefährdet sind Menschen mit Vorschädigungen, Schwangere und Kinder. Die Menschengruppen haben viel geringere Abwehrkräfte und seien daher stärker von den Chemikalien betroffen.

Mögliche Folgen des aerotoxischen Syndroms

Das aerotoxische Syndrom kann zu einer schleichenden Vergiftung führen. Die schädlichen Stoffe, die freigesetzt werden und in die Kabinenluft gelangen, können das Absterben von Nervenzellen und Gehirnzellen verursachen. Je länger oder öfter man den sogenannten „Fume Events“ ausgesetzt ist, desto mehr Zellen sterben und man kann chronische Effekte beobachten.


Technische Lösungsansätze

Externe Hilfsturbinen für die Kabinenluft

Wie es auch schon zum Anfang des Düsenjets-Zeitalters üblich war, können zusätzlich, zu den Triebwerken noch Hilfsturbinen am Rumpf angebracht werden, die ausschließlich für die Atemluft-Versorgung verantwortlich sind. Die Mehrheit der Hersteller entscheidet sich veranlasst durch Kosten- und Gewichtsgründe jedoch gegen die Hilfsturbinen.

Filteranlagen

Inzwischen sind Filtersysteme, die für die Reinigung der Kabinenluft zuständig sind, entwickelt und auch behördlich zugelassen, jedoch werden diese in der Regel nicht für Passagierflugzeuge verwendet. Der Grund hierfür scheint bei Problemen mit der benötigten Luftdruchsatzmenge in der Passagierkabine größerer Flugzeuge zu liegen.

Forschungsprogramme

  • Im Jahr 1986 beauftragte der US-Kongress den Nationalen Forschungsrat (National Research Council – NRC), einen Bericht über die Qualität der Kabinenluft zu erstellen. Der Bericht empfahl ein Rauchverbot in Flugzeugen zur Verbesserung der Luftqualität, der kurze Zeit später von der US-amerikanischen Bundesluftfahrtbehörde FAA umgesetzt wurde.
  • Laufende Forschungen des britischen Verkehrsministeriums können keine langfristigen Gesundheitsschäden feststellen. Das Ministerium gab auf viele Beschwerden der Organophosphate Information Network, britischen Pilotenvereinigung BALPA und der internationalen Vereinigung der Flugbegleiter, die ihre Bedenken über die Risiken der Vergiftung für Kabinencrew bei wiederholtem Einsatz zum Ausdruck brachten, folgende Antwort:

“Diese Frage – auch die möglichen Folgen einer langfristigen Einwirkung – wurde bereits viel detaillierter von dem australischen Senat untersucht. Obwohl die Berichte davon sich weitgehend auf die Kabinenluftqualität und chemische Kontamination in einem Flugzeug bezogen haben und empfehlen es, Motorschmieröle einer weiteren strengen chemischen Prüfung zu unterziehen, gab es jedoch keine Anhaltspunkte für weitere Zweifel bezüglich Trikresylphosphate (TCP). Es wurden keine Fälle der TCP-Vergiftungen von verunreinigter Kabinenluft entdeckt und die sehr niedrige Menge an TCP, die auch im sehr unwahrscheinlichen Extremfall der Kontamination durch Ölleck in der Luft hätte gefunden werden können, führt uns zu der Schlussfolgerung, dass der Verdacht auf die erhebliche Gefahr für die Gesundheit der Crew und der Fluggäste nicht substanziiert ist.“

  • Die Medizinische Hochschule Hannover (kurz MHH) und ein Fraunhofer-Institut wurden von der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (kurz EASA, engl. European Aviation Safety Agency) mit einer Untersuchung der Schadstoffbelastung von Kabinenluft beauftragt. Hierbei soll ein Vergleich der Kabinenluft im Normalzustand und bei den sogenannten „Fume Events“ erfolgen.
  • Mehrere Arbeitsmediziner um Astrid Heutelbeck untersuchten knapp 3 Jahre lang Proben von Menschen, die nach dem Fliegen über Beschwerden klagten. Blut- und Urinproben von mehr als 140 Patienten, die Mehrzahl davon Flugpersonal, wurden unmittelbar nach den Flügen analysiert. Neben den Organophosphaten fand man regelmäßig sogenannte flüchtige organische Verbindungen (VOC) oder deren Abbauprodukte, welche auch über das Triebwerk in die Zapfluft-Anlagen und dann in die Kabinen gelangen.

Bislang fehlt trotz vieler Vorfälle und zahlreicher Untersuchungen der wissenschaftliche Nachweis für den Zusammenhang der Gesundheitsrisiken mit der kontaminierten Frischluft der Kabinen in Passagierflugzeugen.

Vereinigungen setzen sich für die Gesundheit ein

Pilotenvereinigung Cockpit

Die Pilotenvereinigung Cockpit (kurz VC) fordert technische Vorkehrungen, um gefährliche Dämpfe in Flugzeugkabinen zu vermeiden und anzuzeigen. Auch befürwortet der Verband Hilfsturbinen für die Kabinenluft, welche anfangs lange üblich waren, aber aufgrund von Kosten- und Gewichtsgründen eingespart wurden. Eine weitere Forderung der VC ist der Einbau von Sensoren zur Erkennung von giftigen Substanzen in der Luft und die Nachrüstung aller Flugzeuge mit Filtertechnologie.

Flugbegleitergewerkschaft Ufo

Zusammen mit der Pilotenvereinigung Cockpit fordert die Flugbegleitergewerkschaft Ufo von den Herstellern und der EASA, die Gesundheitsrisiken für alle Bordinsassen abzustellen. Auch verlangen sie einheitliche Standards für die Qualität der Kabinenluft.

Gewerkschaft Ver.di

Die Gewerkschaft Ver.di setzt sich sowohl für das fliegende Personal, als auch für die Mitarbeiter am Boden ein. Der Verband fordert die Gründung eines medizinischen Kompetenzzentrums zur Diagnose und Behandlung von Betroffenen.

Stellungnahme der Fluggesellschaften

Bisher weisen die Fluggesellschaften das Problem und jegliche Verantwortung von sich ab. Es heißt, es gäbe keine wissenschaftlichen Belege für den Zusammenhang von kontaminierter Frischluft in den Passagierflugzeugkabinen und den in der vergangenen Zeit vermehrt auftretenden Erkrankungen bei Flugpersonal. Weiterhin ist die verbreitete Meinung der Airlines, dass die Konzentration der möglicherweise freigesetzten Stoffe zu gering sei, um ernsthafte, bleibende Schäden am menschlichen Organismus hervorzurufen.

Probleme bei der Vereinheitlichung der Standards für die Kabinenluftqualität

Bei dem Versuch, die Standards für die Qualität der Kabinenluft zu vereinheitlichen, stößt man zunächst auf Probleme, da es für viele der nun erstmals im Labor gefundenen Substanzen bisher keine Richtwerte für die Atemluft gibt. Die Substanzen sind allesamt in Verbraucherprodukten verboten. Jedoch gelten diese Richtwerte nur für Gefahrstoff-Arbeitsplätze, welches ein Passagierflugzeug nicht darstellt.

Zwischenfälle der Kabinenluftverunreinigung

Der Begriff „Kabinenluftverunreinigung“ wurde im Rahmen einer einjährigen Ermittlung des australischen Senats verwendet. Es wurden Entschädigungen wegen gesundheitlicher Beeinträchtigung an circa 20 Besatzungsmitglieder des Kurzstrecken-Passagierflugzeuges BAe 146 ausgezahlt. Die beschriebenen Symptome wurden auf das Austreten des Öldampfes in die Flugzeugkabine zurückgeführt. Die Ermittler sind zu dem Schluss gekommen, dass das Problem der austretenden Dämpfe als ein Sicherheitsmangel mit Rücksicht auf die Fähigkeit der Crew, die Evakuierung in einem Notfall genau zu beobachten und der Fluggäste, sich zügig in Sicherheit bringen zu können, betrachtet werden soll.

Zwischenfälle

2014 gab die Zeitschrift „Focus“ bekannt, dass in den vergangenen 8 Jahren 663 Fälle von verdächtigen Dämpfen, Gerüchen, Nebel und Rauch in Flugzeugkabinen der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (kurz BFU) gemeldet wurden.

Zwischenfälle während des Fliegens

  • Am 5. November 2000, sowohl der Pilot als auch der Kopilot der Maschine BAe 146 der Jersey European Airways haben sich während der Landung in Birmingham International Airport plötzlich unwohl gefühlt. Sie haben sich beide über Übelkeit und Diplopie (Doppelsehen) beschwert und bekamen Schwierigkeiten damit, die Höhe richtig einzuschätzen. Trotz dessen konnte die Maschine sicher gelandet werden. Ärztliche Untersuchung zeigte keine Auffälligkeiten an. Die anschließende Ermittlung stieß auf Indizien, die auf ein Ölleck an einem der Hilfstriebwerke deuteten, von dem die Dämpfe in das ECS gelangen konnten. Es wurde auch herausgefunden, dass beide Piloten die Bordtoilette besucht haben, unmittelbar, bevor sie die ersten Anzeichen der Vergiftung verspürt haben. Zur gleichen Zeit berichtete ein anderer Betreiber, dass übermäßige Verwendung von einem Desinfektionsmittel (Formaldehyd) für die Toiletten und die Galley und nachfolgendes Einatmen der Dämpfe zu ähnlichen Beschwerden der Crew geführt haben soll. Die Zivilluftfahrtbehörde von Großbritannien warnte daraufhin andere Fluggesellschaften vor dem übermäßigen Gebrauch von Reinigungsmitteln.
  • Ende 2010 sorgte ein Zwischenfall einer Maschine der Germanwings für Aufsehen, als der Pilot und Copilot während der Landung Sauerstoffmasken aufsetzten. Kurz nachdem sie einen scharfen Brandgeruch wahrgenommen hatten, verspürten sie Übelkeit. Die Maschine wurde sicher gelandet.
  • Ende 2011 wurde ein Pilot durch schädliche Substanzen vergiftet und war nicht mehr fähig, das Flugzeug zu führen.

Präzedenzfälle

Am 5. Mai 2009 hatte das höchste Gericht Australiens - High Court of Australia - eine Entscheidung im Präzedenzfall Joanne Turner gegen Eastwest Airlines getroffen. Das Gericht sprach der ehemaligen Mitarbeiterin der Fluggesellschaften einen Schadensersatz wegen Gesundheitsgefährdung aufgrund von dauerhafter Einwirkung von erhitzten Motorölen bzw. Öldämpfen. Joanne Turner arbeitete als Flugbegleiterin für Australia's Ansett und Eastwest Airlines und war dem Rauch und den Dämpfen, die sich durch fehlerhafte Ölabdichtung gebildet haben, auf dem BAe 146 Flug zwischen Sydney und Brisbane vom 4. März 1992 ausgesetzt, wo sie im 5. Monat schwanger war. Der Fehler der Abdichtung des Hilfstriebwerkes APU war nach Ansicht des Gerichts vorhersehbar, genau wie das Risiko, dass der Rauch in die Kabine gelangen würde. Der Richter fand, dass die bei der pyrolytischen Zersetzung des Öls frei werdenden Stoffe schädlich für die Lungen sind. Das Urteil wurde von der Gegenseite angefochten, die Fluggesellschaften verloren jedoch beide Berufungen.

Todesfälle

  • Der Pilot Richard Westgate starb im Dezember 2012. Im Jahr zuvor klagte er über Schwindel, Taubheitsgefühle und verschiedene andere Symptome. Die Flugtauglichkeitsuntersuchung bestand er nicht mehr. Nachdem ihm kein Arzt helfen konnte, verschlechterte sich sein Zustand und er sicherte ab, dass sein Körper nach seinem Tod der Wissenschaft zur Verfügung gestellt wird, um das aerotoxische Syndrom zu erforschen. Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass eine Nervenverkümmerung im Gehirn und der Zerfall der Schutzschicht, die die Gehirnzellen umgibt, vorhanden waren. Somit konnte die Existenz des aerotoxischen Syndroms bei Richard Westgate nicht mehr ausgeschlossen werden.


Links

Aerotoxic Association – Vereinigung von ehemaligen Crewmitgliedern einiger britischen Fluggesellschaften, die am aerotoxischen Syndrom erkrankt waren

Siehe auch

Jetlag
Akklimatisation