Schlussanträge des Generalanwalts M. Poiares Maduro vom 25. Januar 2007 (Rechtssache C‑422/05)
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
M. POIARES MADURO
vom 25. Januar 2007
Rechtssache C‑422/05
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
gegen
Königreich Belgien
„Luftverkehr – Lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Gemeinschaft“
1. Den Hühnern von North Carolina kommt das Verdienst zu, erste Erwägungen der Rechtsprechung − so geschehen im Jahr 1946, und es handelte sich um den Supreme Court der Vereinigten Staaten − über die Folgen von Fluglärm und den notwendigen Ausgleich des allgemeinen Interesses an der Nutzung des Luftraums mit den Rechten derer ausgelöst zu haben, die in irgendeiner Weise den Folgen der durch den Start und die Landung von Flugzeugen erzeugten Lärmemissionen ausgesetzt sind.
2. Der vorliegende Fall betrifft den Erlass der Königlichen Verordnung (Arrêté Royal, im Folgenden: Königliche Verordnung) vom 14. April 2002 zur Regelung der Nachtflüge bestimmter ziviler Unterschallstrahlflugzeuge. Nach Auffassung der Kommission erfolgte dieser Erlass unter Verstoß gegen die Verpflichtungen aus der Richtlinie 2002/30/EG sowie aus den Art. 10 Abs. 2 und 249 Abs. 3 EG.
3. Dem Königreich Belgien wird vorgeworfen, seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit dem Urteil Inter-Environnement Wallonie ausgelegt werden, nicht nachgekommen zu sein, weil es während der Frist für die Umsetzung der Richtlinie Maßnahmen erlassen habe, „die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen“.
I – Rechtlicher Rahmen
A – Gemeinschaftsrecht
4. Die Richtlinie 2002/30 wurde mit dem Ziel erlassen, in der Gemeinschaft geltende Regeln für die Einführung gleichartiger Betriebsbeschränkungen auf den Flughäfen der Mitgliedstaaten festzulegen. Diese Beschränkungen sollen den von zivilen Unterschallstrahlflugzeugen erzeugten Lärm vermindern.
5. Art. 2 Buchst. g der Richtlinie definiert den ausgewogenen Ansatz, der die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in diesem Bereich leitet:
„… der Ansatz, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten die möglichen Maßnahmen zur Lösung des Lärmproblems auf einem Flughafen auf ihrem Gebiet prüfen, insbesondere die absehbare Auswirkung einer Reduzierung des Fluglärms an der Quelle, der Flächennutzungsplanung und ‑verwaltung, der Lärm mindernden Betriebsverfahren und Betriebsbeschränkungen.“
6. Art. 4 Abs. 4 legt die Kriterien für die Beurteilung des Lärmwerts von Flugzeugen fest, wie dieser „durch das gemäß Band I des Anhangs 16 des Abkommens über die Internationale Zivilluftfahrt, dritte Ausgabe (Juli 1993), durchgeführte Bescheinigungsverfahren ermittelt wurde“. Die Kriterien in Band I Teil II Kapitel 3 des Anhangs 16 dieses Abkommens ( ICAO-Abkommen) werden auch für die Definition des „knapp die Vorschriften erfüllenden Luftfahrzeugs“ in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie verwendet.
7. Der ausgewogene Ansatz stellt den − auf internationaler Ebene definierten − Schnittpunkt dar, in dem die Politiken zur Verminderung des Lärms mit den Erfordernissen der Entwicklung der zivilen Luftfahrt in Einklang gebracht werden sollen.
8. Nach Art. 15 der Richtlinie wird die zuvor geltende Verordnung (EG) Nr. 925/1999 des Rates vom 29. April 1999 zur Registrierung und zum Betrieb innerhalb der Gemeinschaft von bestimmten Typen ziviler Unterschall-Strahlflugzeuge, die zur Einhaltung der in Band I Teil II Kapitel 3 des Anhangs 16 des Abkommens über die Internationale Zivilluftfahrt, dritte Ausgabe (Juli 1993), festgelegten Normen umgerüstet und neu bescheinigt worden sind, aufgehoben.
9. Eines der Ziele der neuen Gemeinschaftsregelung ist die Überwindung der zuvor geltenden Regelung vor Eintritt ihrer vollen Wirkung zum April 2002 (wie in Art. 3 der genannten Verordnung vorgesehen). Die Richtlinie sieht nämlich die Harmonisierung des europäischen Rechtsrahmens anhand der von der ICAO erlassenen Leitlinien vor. Diese neuen internationalen Leitlinien werden in der (anlässlich der 33. Tagung der ICAO-Versammlung gefassten) Entschließung A 33/7 definiert, auf die sich die Richtlinie in Erwägungsgrund 10 bezieht.
10. Der Ansatz der Richtlinie im Bereich der Betriebsbeschränkungen lässt die bereits getroffenen Entscheidungen unberührt; nach Art. 7 sind vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen:
„a) Betriebsbeschränkungen, die bereits vor Inkrafttreten dieser Richtlinie erlassen worden sind,
b) unwesentliche technische Änderungen partieller Betriebsbeschränkungen, die für die Luftfahrtunternehmen auf einem bestimmten Gemeinschaftsflughafen keine signifikanten Kostenauswirkungen haben und die nach Inkrafttreten dieser Richtlinie vorgenommen werden.“
Weitere Freistellungen für besondere Fälle sind in den Art. 8 und 9 vorgesehen.
11. Die Richtlinie trat am Tag ihrer Veröffentlichung, dem 28. März 2002, in Kraft. Nach ihrem Art. 16 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen, um der Richtlinie bis zum 28. September 2003 nachzukommen. Außerdem müssen sie die Kommission unverzüglich über die erfolgte Umsetzung unterrichten.
B – Nationales Recht
12. Die Königliche Verordnung vom 14. April 2002 wurde im Moniteur belge vom 17. April 2002 veröffentlicht.
13. Art. 1 der belgischen Regelung sieht vor:
„Während der Nachtruhe von 23 bis 6 Uhr Ortszeit sind Flugbewegungen ziviler Unterschallstrahlflugzeuge nur dann erlaubt, wenn diese Flugzeuge Flüge in Reisekonfiguration … durchführen.“
14. Art. 2 bestimmt jedoch:
„Art. 1 ist nicht anwendbar
- 1. auf Flugzeuge, die belgisches Gebiet im Verlauf eines Fluges überfliegen, dessen Start- und Zielpunkt im Ausland liegen;
- 2. auf zivile Unterschallstrahlflugzeuge, die
- a) mit Triebwerken ausgestattet sind, deren Nebenstromverhältnis größer oder gleich drei ist, und die den Vorschriften des Anhangs 16 des Abkommens über die Internationale Zivilluftfahrt, dritte Ausgabe (Juli 1993), Band I Teil II Kapitel 3, oder strengeren Vorschriften entsprechen oder
- b) von Anfang an, d. h. ohne neu bescheinigt worden zu sein, den Vorschriften unter Buchst. a oder strengeren Vorschriften entsprechen.“
15. Nach Art. 3 der Königlichen Verordnung gilt diese unbeschadet der Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 925/1999.
16. Art. 4 regelt das Datum des Inkrafttretens der Königlichen Verordnung und setzt es auf den 1. Juli 2003 fest, also weniger als drei Monate vor Ablauf der in der Richtlinie vorgesehenen Umsetzungsfrist und mehr als ein Jahr nach ihrem Inkrafttreten.
II – Vorverfahren
17. Am 6. Juni 2002 ersuchte die Kommission die belgischen Behörden um Auskünfte über die Königliche Verordnung vom 14. April 2002. Die Aufmerksamkeit der Kommission richtete sich im Wesentlichen auf den Umstand, dass die belgische Verordnung zur Bestimmung der Betriebsbeschränkungen die Bezugnahme auf das Kriterium des „Nebenstromverhältnisses“ nach der Verordnung (EG) Nr. 925/1999 aufrechterhielt, da die Verordnung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Königlichen Verordnung bereits aufgehoben und dieses Kriterium außerdem in der neuen Regelung nicht wieder aufgenommen worden war.
18. Die belgischen Behörden antworteten mit Schreiben vom 28. Juni 2002. Die Kommission hielt diese Antwort für nicht zufrieden stellend und versandte daher am 24. Oktober 2002 ein Mahnschreiben, weil die während der Frist für die Umsetzung der Richtlinie erlassenen Maßnahmen geeignet seien, die Erreichung des vorgeschriebenen Ziels in Frage zu stellen. In Punkt 2.2 des Mahnschreibens hob die Kommission hervor, dass die Königliche Verordnung auf die Begriffe Nebenstromverhältnis und Neubescheinigung, die der Richtlinie beide fremd seien, Bezug nehme.
19. In ihrer Antwort vom 23. Dezember 2002 führten die belgischen Behörden weitere Argumente aus, mit denen nachgewiesen werden könne, dass die Königliche Verordnung vom 14. April 2002 nichts anderes als den Zeitpunkt der Formalisierung einer bereits vor Inkrafttreten der Richtlinie „erlassenen“ Maßnahme darstelle und dass ihr Inhalt daher nach Art. 7 dieser Richtlinie zu beurteilen sei.
20. Zur Rechtfertigung der Verzögerung bei der Formalisierung der Königlichen Verordnung berief sich das Königreich Belgien auf die komplexe interne Organisation des belgischen Staates und auf die Erfordernisse der Koordinierung und Abstimmung der verschiedenen normativen Ebenen, die Zuständigkeiten im Bereich der Verwaltung der Flughäfen und des Luftverkehrs hätten.
21. Da die Antworten die Kommission nicht zufrieden stellten, erließ sie am 3. Juni 2003 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, auf die Belgien mit Schreiben vom 3. August 2003 antwortete.
22. Die Kommission hat schließlich mit am 28. November 2005 eingereichtem Schriftsatz Klage gemäß Art. 226 EG erhoben.
III – Analyse
23. Die Kommission macht geltend, dass die mit der Königlichen Verordnung vom 14. April 2002 erlassenen Maßnahmen Beschränkungen des Betriebs von Luftfahrzeugen im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2002/30 darstellten, die während der in der Richtlinie eingeräumten Umsetzungsfrist eingeführt worden seien.
24. Diese Beschränkungen seien erlassen worden, ohne dass die Art. 5 und 6 der Richtlinie berücksichtigt worden seien. Diese Artikel legten eine Reihe von Regeln für die Prüfungen fest, die bei der Einführung der Beschränkungen und beim Abzug derjenigen Luftfahrzeuge aus dem Verkehr vorzunehmen seien, die den in Band I Teil II Kapitel 3 des Anhangs 16 des ICAO-Abkommens vorgeschriebenen Standard „knapp erfüllten“. Die Definition der „knapp die Vorschriften erfüllenden Luftfahrzeuge“ sei − wie erwähnt − die in Art. 2 Buchst. d angegebene.
25. Die Einführung dieser Beschränkungen sei außerdem erfolgt, ohne dass Art. 10 der Richtlinie beachtet worden sei. Dieser Artikel verpflichte die Mitgliedstaaten, zur Anwendung der Beschränkungen der Art. 5 und 6 die Anhörung der Betroffenen vorzusehen, und verlange allgemein die Transparenz der getroffenen Entscheidungen.
26. Die Kommission schließt ihre Klageschrift in Randnr. 43 damit, dass der Erlass der Königlichen Verordnung „die Bedingungen der Umsetzung und der Anwendung der Richtlinie dauerhaft in Frage stellt, weil mit der Forderung, verschiedene Luftfahrzeuge abzuziehen, die in der Richtlinie vorgesehene Beurteilung der Lärmproblematik den Emissionen, die alle Kapitel 3 des Anhangs 16 des ICAO-Abkommens entsprechenden Luftfahrzeuge erzeugen, nicht mehr Rechnung tragen kann und somit eine optimale Verbesserung der Lärmbedingungen nicht länger in richtlinienkonformer Weise verfolgt werden kann.“
A – Die Wirkungen von Richtlinien während der Umsetzungsfrist
27. Die Forderung der Kommission stützt sich auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs seit dem Urteil Inter-Environnement Wallonie.
28. Nach Auffassung des Gerichtshofs verlangt eine in Kraft befindliche Richtlinie in Verbindung mit den Art. 10 Abs. 2 und 249 Abs. 3 EG, dass
„der Mitgliedstaat, an den diese Richtlinie gerichtet ist, während der in [der Richtlinie] festgesetzten Umsetzungsfrist keine Vorschriften [erlässt], die geeignet sind, die Erreichung des in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Zieles ernstlich in Frage zu stellen“.
29. Diese Rechtsprechung ist bisher nur in Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG geltend gemacht worden. Der hier in Rede stehende Fall betrifft dagegen ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG.
30. Die Festigung dieser Rechtsprechung ist mit dem Erfordernis verbunden, die Rechtmäßigkeit innerstaatlicher Rechtsvorschriften im Hinblick auf die zum Zeitpunkt ihres Erlasses bestehenden Umstände zu beurteilen bzw. zu prüfen, ob Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, hinsichtlich deren die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist, die Mitgliedstaaten daran hindern, normative Maßnahmen zu erlassen, die nicht mit den vom Gemeinschaftsrecht auferlegten Verpflichtungen in Einklang stehen.
31. Die Bedeutung dieser Frage ist offensichtlich.
32. Zunächst sollte zwischen dem Inkrafttreten einer Richtlinie und der für ihre Umsetzung festgesetzten Frist unterschieden werden. Der EG-Vertrag ist in Art. 254 Abs. 1 eindeutig:
„Die nach dem Verfahren des Artikels 251 angenommenen Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen werden vom Präsidenten des Europäischen Parlaments und vom Präsidenten des Rates unterzeichnet und im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht. Sie treten zu dem durch sie festgelegten Zeitpunkt oder andernfalls am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft.“
33. Im Fall der in Rede stehenden Richtlinie sieht Art. 17 vor:
„Diese Richtlinie tritt am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften in Kraft.“
Diese Veröffentlichung erfolgte am 28. März 2003.
34. Seit diesem Tag existiert die Richtlinie und entfaltet ihre Wirkungen in der Gemeinschaftsrechtsordnung und gegenüber den Mitgliedstaaten, obwohl sie ihnen eine Frist zum Tätigwerden lässt, wie in unserem Fall in Art. 16 vorgesehen. Diese Frist bezweckt insbesondere, den Mitgliedstaaten die erforderliche Zeit für den Erlass der Umsetzungsmaßnahmen zu garantieren.
35. Es war Generalanwalt Mancini, der die Frage der Wirksamkeit der Richtlinien während der Umsetzungsfrist bereits in seinen Schlussanträgen vom 7. Oktober 1986 in der Rechtssache 30/85 aufgeworfen hatte:
„… auch dann, wenn [die Richtlinie] keine eigentliche Standstill-Klausel enthält, [entfaltet sie] eine ‚Sperrwirkung‘ in dem Sinne …, dass sie den Mitgliedstaaten den Erlass entgegenstehender Vorschriften verbietet. … Es liegt daher auf der Hand, dass sie die Mitgliedstaaten allein aufgrund ihres Erlasses verpflichtet, sich des Erlasses neuer, diese Unterschiede verstärkender Maßnahmen zu enthalten.
… Wie jede andere unterliegt jedoch auch diese Befugnis Grenzen, und zwar in erster Linie solchen, die von der Logik gezogen werden. So schließt sie zweifellos die Befugnis ein, abweichende Vorschriften oder Praktiken beizubehalten; wie ich jedoch gesagt habe, steht auch fest, dass hierunter nicht die Befugnis fällt, die Unterschiede zu verstärken, die die Richtlinie beseitigen soll. So ist unter anderem davon auszugehen, dass Vorschriften, die innerhalb dieser Frist erlassen werden, notwendigerweise als Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie anzusehen sind; derartige Maßnahmen müssen zumindest so beschaffen sein, dass sie den Vorschriften der Richtlinie nicht zuwiderlaufen.“
36. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt diese Wirkung im genannten Urteil Inter-Environnement Wallonie. Das Urteil des Gerichtshofs folgt zwar nicht im Ganzen der von Herrn Mancini vertretenen Position, stellt jedoch einen wichtigen Schritt dar. Die Lösung geht über das hinaus, was Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen zu jenem Urteil vorgeschlagen hatte.
37. Der Gerichtshof stellt klar, welche Wirkungen Richtlinien − während der Umsetzungsfrist − haben, und verfolgt dabei das Ziel, die Wirksamkeit der Richtlinien ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens sicherzustellen, ohne auf diese Weise den Mitgliedstaaten irgendeine vorweggenommene Verpflichtung zum Tätigwerden aufzuerlegen. Er geht außerdem nicht so weit, sich zugunsten einer allgemeinen Unterlassungspflicht eines Mitgliedstaats in den durch die Richtlinie geregelten Bereichen auszusprechen.
38. Die Art. 10 Abs. 2 und 249 Abs. 3 EG sehen, auf diese Weise ausgelegt, eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, die Ziele der Gemeinschaft, wie sie in einer Richtlinie definiert sind, nicht in Frage zu stellen. Die Verpflichtung des Staates zum Tätigwerden kann erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist überprüft werden. In der Zwischenzeit kann die Richtlinie offenbar bereits ab ihrem Inkrafttreten am Erlass nationaler Vorschriften hindern, die die Erreichung der Ziele in Frage stellen könnten.
39. Diese am „guten Glauben“ orientierte Logik ist nicht weit von der völkerrechtlichen Regelung entfernt. Art. 18 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 sieht vor:
„Ein Staat ist verpflichtet, sich aller Handlungen zu enthalten, die Ziel und Zweck eines Vertrags vereiteln würden,
…
b) wenn er seine Zustimmung, durch den Vertrag gebunden zu sein, ausgedrückt hat, und zwar bis zum Inkrafttreten des Vertrags und unter der Voraussetzung, dass sich das Inkrafttreten nicht ungebührlich verzögert.“
40. Der Mitgliedstaat behält seine Gesetzgebungs‑ und Verwaltungsbefugnisse; diese Befugnisse müssen jedoch in einer Art und Weise ausgeübt werden, die mit den Bestimmungen der Richtlinie in Einklang steht, und dürfen dieser nicht zuwiderlaufen oder auch nur geeignet sein, die Erfüllung der auf Gemeinschaftsebene festgelegten Vorschriften zu erschweren.
41. Für die Feststellung eines Verstoßes durch einen Mitgliedstaat verlangt der Gerichtshof, dass geprüft wird, ob die nationale Vorschrift geeignet ist, die Ziele der Richtlinie „ernstlich in Frage zu stellen“.
42. In diesem Zusammenhang hat er hervorgehoben, dass eine Beurteilung der nationalen Regelung durchzuführen ist, in deren Rahmen geprüft wird,
„ob sich die betreffenden Vorschriften als eine vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellen [; das nationale Gericht] hat die konkreten Folgen der Anwendung dieser mit der Richtlinie nicht übereinstimmenden Vorschriften und ihrer Geltungsdauer zu untersuchen“.
43. Stellen sich die betreffenden Vorschriften als eine vollständige Umsetzung der Richtlinie dar, ist eine vorweggenommene Beurteilung der Konformität der Umsetzung erforderlich. Die Verpflichtung kann schwerlich erfüllt worden sein, und dies innerhalb der vorgeschriebenen Zeit, wenn das, womit ihr ausdrücklich nachgekommen werden sollte, dem Verlangten nicht entspricht.
44. Auch wenn die fragliche innerstaatliche Regelung keine Umsetzungsmaßnahme darstellt, ist sie der Beurteilung der Vereinbarkeit mit den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen nicht entzogen, wobei es nicht darauf ankommt, ob die fragliche, nach Inkrafttreten der Richtlinie erlassene Regelung des nationalen Rechts die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts bezweckt oder nicht.
45. Die Untersuchung der konkreten Auswirkungen der Anwendung der nationalen Vorschriften und ihrer zeitlichen Erstreckung bringt die Analyse auf eine konkretere Ebene.
46. Eine nationale Regelung kann das Ziel einer Richtlinie immer dann ernstlich in Frage stellen, wenn sie dauerhaft eine mit den Zielen der Gemeinschaft unvereinbare Situation herbeiführen kann.
47. Eine solche Situation kann dadurch gekennzeichnet sein, dass entweder eine Regelung erlassen wird oder tatsächliche Umstände geschaffen werden, die den Gemeinschaftszielen nicht nur zuwiderlaufen, sondern auch schwer umkehrbar sind.
48. Denkbar wäre, dass während der Frist für die Umsetzung der Gemeinschaftsrichtlinie auf nationaler Ebene Verpflichtungen auferlegt werden, die geeignet sind, eine bestimmte Situation herbeizuführen oder zu schwer umkehrbaren Entscheidungen zu zwingen, die über die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen hinausgehen und in einem grundlegenden Widerspruch zu ihnen stehen.
49. Die nationale Regelung kann z. B. Pflichten vorsehen, deren Erfüllung der auf Gemeinschaftsebene vorgenommenen Harmonisierung ihre Wirksamkeit nehmen könnte, oder Optionen, die noch über die Frist für die Umsetzung der Richtlinie hinaus bestehen und ihrerseits die weitere Entwicklung der Gemeinschaftsentscheidungen beeinflussen können.
50. Unter solche Konstellationen scheint der Fall der belgischen Verordnung gefasst werden zu können, die für einige in Europa tätige Luftverkehrsgesellschaften schlimmstenfalls das Erfordernis mit sich bringen könnte, ihre Flotten zu ersetzen.
51. Weiter ist zu prüfen, ob die erlassenen Maßnahmen vorläufig notwendig sind. Auf diese Notwendigkeit könnte sich der Mitgliedstaat berufen, um den Erlass von mit den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen nicht in Einklang stehenden Vorschriften zu rechtfertigen.
B – Das Verteidigungsvorbringen des Königreichs Belgien
Die Frage der Unzulässigkeit
52. In seinen schriftlichen Erklärungen weist das Königreich Belgien darauf hin, dass die Kommission in ihrer Klage nach Art. 226 Abs. 2 EG ausführe, die belgische Regierung habe die fragliche Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist durch den Erlass der Königlichen Verordnung vom 25. September 2003 über die Einführung von Betriebsbeschränkungen auf dem Flughafen Bruxelles-National umgesetzt, ohne zugleich die in Rede stehende Königliche Verordnung aufzuheben oder zu ändern.
53. In den Randnrn. 20 bis 29 der Klagebeantwortung wirft Belgien der Kommission vor, eine weitere (nicht in der mit Gründen versehenen Stellungnahme eingeführte) Rüge hinsichtlich des Verhaltens, das Belgien nach der Umsetzungsfrist der Richtlinie an den Tag gelegt habe, hinzugefügt zu haben. Diese Rüge sei nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht zulässig.
54. Das Verteidigungsvorbringen des Königreichs Belgien ist meiner Auffassung nach nicht begründet.
55. Es handelt sich in Wirklichkeit nicht um einen neuen Klagegrund und auch nicht um eine Rüge hinsichtlich der Umsetzung der Richtlinie in belgisches Recht. Es wird kein neuer Vorwurf erhoben.
56. Das vorgebrachte Argument dient in der Darlegung der Kommission nur dazu, klarzustellen, dass bei Ablauf der Umsetzungsfrist und in der Umsetzungshandlung selbst die Aufhebung der beanstandeten Maßnahme nicht vorgesehen gewesen sei und dass diese nicht als Übergangsregelung bezweckt sein könne. Das Königreich Belgien hat zudem trotz des Vorverfahrens keine Änderung des innerstaatlichen Rechts in dem von der Kommission gewünschten Sinne und gemäß den Verpflichtungen vorgenommen, die sich aus der Richtlinie 2002/30 ergeben.
Das übrige Verteidigungsvorbringen des Königreichs Belgien
57. Die vom Königreich Belgien vorgebrachte Verteidigung gegenüber den Argumenten der Kommission konzentriert sich im Wesentlichen − abgesehen von der Frage der Zulässigkeit der Klage − darauf, dass die Königliche Verordnung mit der Richtlinie vereinbar sei und dass die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften korrekt umgesetzt worden seien.
58. Das Königreich Belgien führt aus, dass die in der Königlichen Verordnung vom 14. April 2002 enthaltenen Vorschriften als derzeitige Beschränkungen nach Art. 7 der Richtlinie anzusehen seien.
59. Die Richtlinie sei in dem Sinne auszulegen, dass Art. 7 mit der Bezugnahme auf „Betriebsbeschränkungen, die bereits vor Inkrafttreten dieser Richtlinie erlassen worden sind“, die Vorschriften der Königlichen Verordnung vom April 2002 unberührt lasse, auch wenn diese erst nach dem Inkrafttreten der Richtlinie formalisiert worden seien.
60. Die Position des Königreichs Belgien stützt sich auf die Auslegung des Ausdrucks „erlassen“. Zu diesem Zweck wird auf die Unterschiede zwischen dem erlassenen und dem im Vorschlag der Kommission vorgesehenen Text hingewiesen, wobei zur Bekräftigung auch die englische Fassung angeführt wird. Der Vorschlag habe in der ersten Fassung den Ausdruck „bereits bestehen“ („already in force“ in der englischen Fassung) anstelle von „erlassen“ („established“), des Ausdrucks im endgültigen Text, verwendet.
61. Die belgische Regierung weist darauf hin, dass die mit der Königlichen Verordnung vom 14. April 2002 erlassenen Entscheidungen von der Zentralregierung bereits am 11. Februar 2000 angenommen worden seien (zum Nachweis dessen wird auf eine umfassende Erörterung der politischen Entscheidung in den Medien verwiesen) und dass die Verzögerung bei der endgültigen Formalisierung der besonderen inneren Ausgestaltung des belgischen Staates und der Verteilung der Kompetenzen zwischen dem Zentralstaat und den Regionen zuzuschreiben sei.
62. Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Es ist nicht erforderlich, sich der vom Königreich Belgien befürworteten Auslegung anzuschließen, um einen Unterschied zwischen den Ausdrücken „bereits bestehen“ und „erlassen“ anzuerkennen, die sukzessive in den einander gegenübergestellten Texten verwendet werden; das Wort „erlassen“ drückt ein Konzept aus, das sich eindeutig von jenem unterscheidet, das auf die Vorstellung einer politischen Entscheidung zurückgeht und auf das sich der Beklagte bezieht.
63. Außerdem wird geltend gemacht, dass die in Art. 7 vorgesehene Ausnahme, da sie eine Ausnahme hinsichtlich der allgemein anwendbaren Vorschriften der Richtlinie und der dieser zugrunde liegenden völkerrechtlichen Übereinkommen darstelle, nicht einschränkend ausgelegt werden könne.
64. Der Sinn von Art. 7 kann durch Erwägungsgrund 18 der Richtlinie besser erhellt werden. Dieser lautet:
„Es muss gestattet werden, die derzeitigen flughafenspezifischen Lärmschutzmaßnahmen fortzusetzen und bestimmte technische Änderungen an partiellen Betriebsbeschränkungen vorzunehmen.“
65. Dieser Erwägungsgrund unterstreicht das Erfordernis, nur die bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie bestehenden Beschränkungen unberührt zu lassen; bereits die Überschrift von Art. 7 bezieht sich auf „derzeitige Betriebsbeschränkungen“.
66. Die in Rede stehende Königliche Verordnung wird wie jeder Akt, der Rechtsvorschriften enthält, ab dem Zeitpunkt ihres förmlichen Erlasses gemäß den innerstaatlichen Regeln Teil der Rechtsordnung; mit diesem Zeitpunkt ist untrennbar der der amtlichen Veröffentlichung verbunden, auf den die Entfaltung der Wirkungen zurückgeführt werden kann.
67. Die am 17. April 2002 im Moniteur belge veröffentlichte Königliche Verordnung nennt das Datum des 14. April als Hinweis auf ihren Erlass. Dies sind die Punkte, an die bei der Auslegung angeknüpft werden kann.
68. Die Rechtssicherheit wäre gefährdet, wenn es möglich wäre, sich bei der Festlegung von Ausnahmen von der Anwendung der Gemeinschaftsregelung auf Zeitpunkte politischer Entscheidungen zu beziehen, die keiner umfassenden Veröffentlichungsregelung unterliegen.
69. Hinzu kommt, dass sich die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht auf interne Umstände oder praktische Schwierigkeiten berufen können, um eine Verspätung bei der Umsetzung zu rechtfertigen. Diese Rechtsprechung kann entsprechend auch auf die vorliegende Situation angewandt werden.
70. Um eine von einem Staat zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits beschlossene Politik zu ermitteln, können keine Umstände herangezogen werden, die sich auf die internen Verfahren des Erlasses beziehen. Vielmehr muss der Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung, der auf der Grundlage der nationalen Gesetze und der amtlichen Handlungen der Veröffentlichung von Verwaltungs- oder normativen Entscheidungen bestimmt wird, berücksichtigt werden.
71. Die in Art. 7 der Richtlinie vorgesehene Ausnahme kann daher nicht auf die in der Königlichen Verordnung vom 14. April 2002 enthaltenen Vorschriften angewandt werden.
72. Für den Fall, dass der Gerichtshof verneinen sollte, dass die Königliche Verordnung eine vor der Richtlinie erlassene Maßnahme ist, macht das Königreich Belgien hilfsweise geltend, dass die Verordnung mit den von der Richtlinie verfolgten Zielen übereinstimme und zudem die normative Lücke fülle, die die Aufhebung der Verordnung Nr. 925/1999 gelassen habe.
73. Auch diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.
74. Hervorzuheben ist, dass zu den Zielen der Richtlinie gehört, die Verordnung zum Zweck der Änderung der Gemeinschaftspolitik im betreffenden Bereich zu überwinden, indem der zuvor bestehende Ansatz durch einen als „ausgewogen“ definierten Ansatz ersetzt wird.
75. Aus diesen Gründen ist die mit der Königlichen Verordnung eingeführte Regelung, die sich als Fortsetzung der früher geltenden Verordnung versteht, aber nach deren Aufhebung erlassen wurde, geeignet, die Erreichung der vorher bestimmten Ziele der Richtlinie ernstlich in Frage zu stellen.
76. Bei der Bestimmung von Maßnahmen, die nach der Aufhebung der Verordnung erlassen werden könnten, hätte gerade der in der Richtlinie vertretene Ansatz berücksichtigt werden müssen.
77. Darüber hinaus kann der Auffassung des Königreichs Belgien nicht gefolgt werden, dass die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen vollständig durch den Erlass der Königlichen Verordnung vom 25. September 2003 erfüllt worden seien.
78. Auch wenn gegenwärtig nur der Flughafen Bruxelles-National ein über 50 000 Bewegungen ziviler Unterschallstrahlflugzeuge aufweisendes Verkehrsaufkommen im Jahr haben sollte und eine Verordnung tatsächlich nur in Bezug auf den Flughafen Bruxelles-National erlassen worden sein sollte, erlaubt die nicht die Feststellung, dass die Königliche Verordnung vom 14. April 2002 aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie fiele.
79. Die Königliche Verordnung vom 14. April 2002 hat allgemeine Geltung, da sie in keiner Weise auf Flughäfen beschränkt ist, die nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst sind. Daher ist sie geeignet, die Erfüllung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen zu gefährden.
80. Die Verpflichtung des belgischen Staates, die Umsetzung der Richtlinie sicherzustellen, hängt nicht davon ab, dass in seinem Gebiet ein von ihrem Anwendungsbereich erfasster Flughafenbetrieb besteht.
81. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs − auch zur Richtlinie 2002/30 − vermag der Umstand, dass eine bestimmte von einer Richtlinie betroffene Praxis in einem Mitgliedstaat nicht besteht, diesen Staat nicht von seiner Verpflichtung zu entbinden, Rechts‑ oder Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die eine ordnungsgemäße Umsetzung aller Bestimmungen dieser Richtlinie sicherstellen(23).
82. Zurückzuweisen ist auch das Vorbringen, dass infolge der Aufhebung der Verordnung Nr. 925/1999 eine Rechtslücke entstanden sei. Die bereits zuvor geltenden nationalen Regelungen und die Richtlinie 92/14/EWG(24) bleiben nämlich in Kraft, und es ist den Mitgliedstaaten unbenommen, nationale Regelungen zu erlassen, die mit den Bestimmungen der Richtlinie 2002/30 vereinbar sind.
83. Aus den dargelegten Gründen stelle ich fest, dass die Königliche Verordnung vom 14. April 2002 − da sie während der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2002/30 mit dieser nicht vereinbare Betriebsbeschränkungen festlegt und auf diese Art und Weise den Betrieb einer bestimmten Kategorie von Luftfahrzeugen erheblich einschränkt − geeignet ist, die in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziele ernstlich in Frage zu stellen.
IV – Ergebnis
84. Im Ergebnis schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen,
dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 2002/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. März 2002 über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Gemeinschaft und aus den Art. 10 Abs. 2 und 249 Abs. 3 EG verstoßen hat, dass es während der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie die Königliche Verordnung vom 14. April 2002 zur Regelung der Nachtflüge bestimmter ziviler Unterschallstrahlflugzeuge erlassen hat.